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Die Farben der Zeit – Esther Kinskys Geländeroman „Hain“

Die Italienbegeisterung deutscher und deutschsprachiger Autor*innen wird wohl nie versiegen. Zum Glück! Und doch schwingt bei mir beim Lesen zunächst immer ein bisschen die Angst vor dem Epigonentum mit. Goethe, Frisch, Bachmann, Brinkmann, Kaschnitz. Und auch die lebenden Dichter fühlen sich wohl im Land der blühenden Zitronen. Seiler, Grünbein und Streeruwitz sind für mich da zuerst zu nennen.

„Der Friedhof leuchtete golden über einem Ozean aus Wolkenmasse“

Doch diese Angst vor dem Epigonentum verfliegt bei Esther Kinsky schon beim Blick auf die Gattungsbezeichnung: „Geländeroman“. Was soll das sein? So wirklich fassbar wird es erst, wenn man sich durch das erste Kapitel geschlagen hat. Die Autorin führt uns durch die ländliche Gegend um das Bergdorf Olevano in Italien. Die namenlose Ich-Erzählerin leidet unter dem Verlust von M., ihrem Mann und bricht nach Italien auf. Das Land der Erinnerungen an die Urlaube der Kindheit. Insgesamt drei Stationen legt sie ein. Und berichtet immer in eindrücklichen Bildern von der Landschaft, deren Farben, Gerüchen und der Geschichte. Dabei wird unterschieden in das Land der Lebenden und das Land der Toten. Das alles fügt sich im „Geländeroman“ mosaikartig zu einer präzisen Topographie von Zeit, Raum und Erinnerung. So präzise die Beschreibungen auch sind, so erschütternd beschreiben sie einen Raum voll Abwesenheit und Leere. Die Farben wären Goethe in ihrer Bandbreite ein wahres Fest gewesen. Und hinterlassen im Leser doch die Kälte des Winters in den Bergen.

Die Welt als Nekropole

In der Welt der Erzählerin scheint nicht mehr viel lebendig zu sein. Zentral für sie sind Friedhöfe und Nekropolen. Im Olevano-Kapitel nehmen die Ruhestätten der Toten besonders viel Raum ein, da sie der Ort sind, an dem sich die Erzählerin im Leben nach M. noch am ehesten zurechtfindet. Im zweiten Kapitel „Chiavenna“ bekommen die Nekropolen eine neue Bedeutungsebene. Sie stellen eine Verbindung zur Kindheit und der Liebe zum Vater her. Erst hier (nach knapp 100 Seiten) beginnt so etwas wie eine Handlung. Dennoch findet die Erzählerin nicht in die Gegenwart des Lebens zurück, sondern erinnert sich an den Vater und die Italienurlaube der Kindheit. Auch dieses Kapitel beginnt mit dem Tod. Dem Tod des Vaters. Dieser Mann bleibt wie alle Figuren außer M. namenlos. Und doch ist es eine stille Liebeserklärung an einen außergewöhnlichen Mann. Dieser Vater war ein großer Entdecker, Erzähler, Gelehrter und Schwimmer. Seine Faszination für die Etrusker und deren Nekropolen ist es, die die Tochter auf Spurensuche auf Italiens Friedhöfen gehen lässt. Als Kinder packte er die gesamte Familie regelmäßig ins Auto, um von den Alpen bis Sizilien alles zu erkunden, was er auf seinen Landkarten entdeckt hatte. Doch quält er die Kinder nicht mit trockenem Wissen unter brennender Sonne. Er schafft es, sie auf Tuchfühlung mit den steinernen Überresten längst vergangener Völker zu bringen. Und dennoch bleibt der Beigeschmack einer entfremdeten Familie. Keine Namen, keine Verklärung der Kindheit, die Konflikte werden in nüchternen Worten unter der Oberfläche gehalten. Das letzte Treffen von Vater und Tochter findet in Triest statt. Ein Gespräch über das unfassbare Blau des Malers Fra Angelico und die Welt der Mosaike. 

Die Abwesenheit der Geschichte

Im letzten Kapitel „Comacchio“ macht sich die Erzählerin auf zu ihrer letzten Station: dem Po-Delta. Die schiere Weite der Landschaft drückt die Leere in ihr aus. Auch dieses Land hat einschneidende, verletzende Transformationen erlebt, durch die Trockenlegungen der Sumpfgebiete. Ist nicht mehr es selbst und trägt die Wunden der Vergangenheit. Die berühmte Nekropole von Spina ist es, die zum Finale der Reise durch die Totenwelt im Reich der Lebenden aufgesucht werden soll. „Als im hellen Licht des Wintertages die blauen Schatten von Gebirgen langsam über den südwestlichen Horizont traten, fühlte ich mich vollends aus den Regeln der Welt entlassen und ihnen enthoben, auf unbekanntes Geheiß werweißwelcher Richtung anheimgegeben, die sich über meine Ziele hinwegsetzte“, ist der unter die Haute gehende Kommentar der Erzählerin von ihrem Weg zur Nekropole, die ihr ein verschlossener und unbedeutender Platz wird. In der Weite von Raum und Zeit wird diese Totenstadt unbedeutend. Es kann trotz allem im Reich der Lebenden weitergelebt werden.

Dieser Geländeroman hat mir einiges an Durchhaltevermögen abverlangt. Das ist aber ganz positiv gemeint. In seiner Anlage schafft er es, den Leser mitzunehmen in eine stumme, vernarbte Welt, die voller Farben ist. Diese Farben verdichten sich zu einem Mosaik. Dieser fragilen Kunst der bunten Scherben, die ein Ganzes ergeben und von ihren Schöpfern verlangen, auf dem Weg zum Ganzen immer wieder zu scheitern und neu beginnen zu müssen. Das Italien Esther Kinskys wird dadurch zu einem magischen Ort, nach dem man sich genauso sehnt, wie man sich vor ihm fürchtet. „Was für eine Schule der Wahrnehmung. In der Reizreduktion zeigt sich jedes noch so unscheinbare Detail mit geradezu übersinnlicher Genauigkeit; die Tonlosigkeit steigert sich zum Gesang der Dinge“, urteilt die Jury des Buchpreises der Leipziger Buchmesse, den Esther Kinsky für „Hain“ verdient erhielt.

Esther Kinsky „Hain. Geländeroman“. Erschienen 2018 bei Suhrkamp in Berlin. Preis 24 €.