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Tränen unter Flutlicht

Zu meinem siebenten Geburtstag bekam ich natürlich ein Trikot geschenkt. Neongelb war es nicht mehr, aber ein Flutlichttrikot. So zogen wir über dem Asphalt unsere Kreise im Flutlicht der Laterne. Borussia spielte zu dieser Zeit nie abends, also hatte ich Zeit dafür. Wie hat das Herz geblutet. Vielleicht ist die Westentaschenpsychologie zum Ende des Jahrhunderts in mein Leben getreten. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Hieß auf dem Schulhof: nichts mehr mit Champions League, ihr Luschen, jetzt steigt ihr ab. Pech gehabt. Abgestiegen sind wir nicht. Und den Sergej Barbarez Sticker in Gold habe ich heute noch doppelt, während dein Paniniheft an der Stelle immer noch leer ist.

Aber Angst vor dem Abstieg hatte ich wirklich. Und habe meine wohl schwerwiegendste Jugendsünde begangen. Eine, an die ich mich erst heranschreiben muss. Die mich heute noch verwundert. Die ich aber nicht bereue. Die Charaktere in Abenteuerromanen machen Fehler, sind Gefahren ausgesetzt, damit sie im weiteren Leben vor der Verfehlung zurücktreten. Einen ähnlichen Fehler habe ich nie wieder gemacht.

Einige der Helden der Neongelben Jahre waren nicht mehr da. Als es wirklich ernst wurde, kehrte Matthias Sammer zurück. Der Mann im Trenchcoat stand mittlerweile an einer anderen Seitenlinie.  Für ihn stand im Westfalenstadion nun ein älterer Herr mit Basecap. Der schaffte es mit Sammer zusammen gerade so noch über den Strich. Zweit Liga ohne uns. Die Formkurve ging wieder nach oben und Borussia spielte wieder abends. Trug die Magie des Flutlichts wieder in unser Wohnzimmer. Auch hier sind es wieder zwei Abende, die sich mir nie entziehen werden. Leonardo Dede schnappt sich an der Linie den Ball und will sich bis zum Tor des AC Mailand durchdribbeln. Zieht hinter der Mittellinie leicht nach innen. Der erste Mailänder Turm taucht vor ihm auf. Und Dede lupft den Ball über ihn hinweg. Fängt den Ball sachte mit dem Spann auf. Nummer zwei. Und wieder drüber. Dieses Zauberspiel sehen die Italiener noch einmal mit an. Dann wird die Sense ausgepackt und unser Freund liegt auf dem Rasen. Dede, es ist nur eine Szene. Eine aus so vielen Jahren. Obrigado. Milan hat uns nichts entgegenzusetzen. Borussia heißt der Fluch der Italiener. Und Marcio Amoroso haut den Elfer rein. 4:0. Wir fahren zum Finale nach Holland.

Die Geschichte, die ich eigentlich erzählen möchte, nimmt von hier an ihren Lauf. Bevor es nach Holland ging, reckten wir die Meisterschale in die Luft. Die erste Meisterschaft, die ich mir heute noch glaube, erlebt zu haben. Dieses Spiel gegen Werder war dein letztes zu Hause. Die Tränen standen auch mir in den Augen, als du vor dem Anpfiff mit dem Strauß Blumen in der Hand vor die Süd kamst. Du, der Held dieser für mich wichtigen Geschichte. Du, der du für das Kind, das ich war, ein Superheld warst. Der uns vor allem Unheil beschützte, selbst auf dem Boden liegend noch in der höchsten Not zur Rettung wurde. Die Tränen standen in den Augen, aber liefen nicht. Mit zehn weint man einfach nicht mehr, wenn es alle sehen können. Das wird dann kurzzeitig nochmal besser. Und irgendwann kommst du hinter das Geheimnis, warum du die Männer um dich herum nie hast weinen sehen. Und du wirst Geheimnisträger und hältst es ebenso mit den Tränen. Es ist nur eine kleine Übung im Hartsein mit sich selbst. Heute ist das Fußballstadion der Ort, an dem ich Tränen laufen lasse. Ich weinte, als Dede ging. Ich weinte, als der Wahnsinn von Malaga ein glückliches Ende nahm.

Finale. De Kuip. Rotterdam. Das ganze „Schüssel“ genannte Stadion voll von fanatischen Holländern. Feyenoord der Gegner. An diesem Abend muss alles passen. Wir setzen uns auf das Sofa, auf dem wir alle wichtigen Spiele und Rennen gesehen haben. Morgens um 4 mit einem Kakao, wenn die Formel 1 in Melbourne loslegte. Mika Häkkinen im Silberpfeil gegen Michael Schumacher in seiner Roten Göttin. Und mit Schumi flitze ich über die Geraden und um die Kurven. Immer hart an der Grenze des Machbaren. Und weit darüber hinaus mit 300 Sachen in der Stunde. Als würden die Gesetze der Physik für ihn sowenig gelten, wie für mich, dass ein Grundschüler nicht mitten in der Nacht fernsieht. Am gleichen Ort das letzte Spiel in Wembley gesehen. Wie ich es nicht glauben wollte, dass sie Sitzschalen, Rasenstücke und Pinkelbecken aus dieser Legende mitgenommen haben. Didi Hamann legt sich den Ball zurecht. 32 Meter Torentfernung. Bis zu David Seaman. Diesem Typen mit Pferdeschwanz und Schnäuzer, der eigentlich ganz gut ist. Für mich wird er zum Symbol, dass die Engländer nie einen gescheiten Torwart haben. Hamann zieht nach drei Schritten Anlauf ab. Flach an der Mauer vorbei schlägt der Ball mit heftiger Wucht ein. Seaman konnte nichts dafür.

An diesem Abend muss alles passen. Sogar das Essen ist schwarz-gelb: Spieße mit Pumpernickel und Käse. In die Cola kippe ich Fanta. Alles muss passen und schwarz-gelb sein. Mein Trikot strahlt im Flutlicht der Röhre. Die Mannschaften kommen endlich aufs Feld. Vorbei an dem Silbernen Pokal ohne Henkel. UEFA-Cup. Und der Kokser ist da. Wird uns in den Kampf führen. Wird dem Sturm standhalten und alles abwehren. Komme da was mag. Es fühlt sich wie damals in München an. Noch einmal liebe Freunde, noch einmal stürmt. Und wir stürmen. In diesem Hexenkessel dürfen wir uns nicht verstecken. Der Schiri pfeift an und es gibt nur eine Richtung. Zum Tor von Feyenoord. Der Ball läuft gut. Von einem schwarz-gelben Stutzen zum Nächsten. Da kann man kaum Luft holen. Es geht hin und her. Und der Kokser räumt alle Gefahr aus dem Weg. Rosicky spielt den Ball zurück. Der Kokser kann ihn nicht richtig annehmen. Wird bedrängt. Kann ihn nicht aus dem Strafraum halten. Stemmt sich dagegen. Und der Stürmer liegt am Boden. Du siehst die Rote Karte und ich will es nicht wahrhaben. Als du den Platz verlässt, kann ich nicht hinsehen. 

Der Name, der sich an diesem Abend in mein Gedächtnis einbrennt, taucht bald darauf zum ersten von zwei Malen auf der Anzeigetafel auf. Pierre van Hooijdonk. Lehmann ahnt die Ecke. Ist fast dran. Aber doch machtlos. 1:0 durch Elfmeter. Die rot-weißen fegen über den Platz. Und wieder van Hooijdonk. Haut uns einen Freistoß aus 25 Metern direkt ins Herz. 2:0. Auf dem Sofa ist es still geworden. Sprache entzieht sich dem D-Zug, der gerade an uns vorbeizieht. Die Vorzeichen haben sich geändert. Aber Zeit ist noch genug. Anrennen gegen Schock und den zu platzen drohenden Traum. Ewerthon flankt in den Strafraum. Amoroso nimmt die Kirsche mit. Hau ihn rein!!! Und Amoroso liegt im Strafraum. Auch unsere Chance aus 11 Metern. Hau ihn rein!!! Und er versenkt das Leder eiskalt. 2:1. Auf geht’s! Das packen wir noch. Jon Dahl Tomasson hält vom 16er direkt drauf. Lehmann kann nur den Ball aus dem Netz holen. 3:1. Wie ein Film rauschen die Bilder an mir vorbei. An das Happy End glaube ich noch immer. Und es bahnt sich an. Die großen Heldengeschichten, die nur der Fußball schreibt. 

Wer so zurückkommt, hat noch nicht verloren. Und die Aufholjagd geht weiter. Ewerthon und Amoroso; den Ball liebende Torpedos. Tomas Rosicky; das jugendliche Herz unseres Spiels. Lars Ricken: investiert sich immer bis zum Letzten selbst für unseren BVB. Und ganz vorne drin: Jan Koller. Dieser Zwei-Meter-Riese pflückt den Ball aus der Luft. Von der Brust tropfen lassen, draufhalten. TOOOOOOOOOOOOOOR!!!!! Aus 20 Metern in den Winkel gehauen. Auf geht`s! Rennt sie an! Und sie rennen und rennen und rennen. Der Zeiger auf der Armbanduhr tut es ebenso. Diese unsäglich traurige Geschichte vom heldenhaften Kampf, der in der Niederlage endet. Diese Geschichte, die dich nur der Fußball erleiden lässt. Victor Melo Pereira nimmt die Pfeife in den Mund. De Kuip explodiert. 

Ich kann nicht hinsehen. Will mich nur noch verkriechen. Nehme Verhandlungen mit dem Fußballgott auf. Van Hooijdonks zweites Tor hätte nicht fallen dürfen. Es war kein Freistoß. Die Verlängerung hätten wir gewonnen. Im Elfmeterschießen hätte Lehmann alles festgehalten. Und dann sehe ich wieder hin, als die Jungs auf das Podest gehen, um sich ihre Silbermedaille zu holen. Kokser, was für ein Schlussakt. Mein Held wirst du für immer sein. Christian Werner Wörns bleibt auf dem Podest stehen. Berührt den Silbernen Pokal kurz und kehrt auf den Rasen zurück. Ein letzter Blick. Es ist der 8. Mai 2002.