Heute ist der Welttag des Buches. Zu diesem Anlass möchte ich euch ein Buch vorstellen, das zum Lachen ebenso wie zum Nachdenken anregt. „Wiener Straße“ von Sven Regener ist ein Teil des Kosmos rund um eine der bekanntesten Figuren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Herrn Lehmann. Kneipenpersönlichkeiten, Hausbesetzer und manische Künstler sind das grandiose Ensemble dieses großen Romans. Kommt mit nach Kreuzberg und erlebt das, was momentan so schwer möglich ist: auf ein Bier und einen Schnack in die Kneipe des Vertrauens.
Altbekannte neu entdeckt
„Wiener Straße“ ist Teil des Romanzyklus rund um Frank Lehmann. Zeitlich setzt es nach „Der kleine Bruder“ ein und spielt damit im Jahr 1980. Bis zur Handlung von „Herr Lehmann“ sind also noch neun Jahre Zeit. Anders als in den weiteren Romanen Regeners ist hier aber nicht nur ein*e Protagonist*in Hauptfigur. Vielmehr kommen alle als Erzählfigur zum Zug, die wir aus den vorherigen Büchern kennen und lieben. Der geizschwäbische Kneipenbesitzer und werdende Vater Erwin. Die verrückten österreichischen Künstler und Hausbesetzer der Arsch-Art-Gallery. Unsere hochverehrten Frank Lehmann und Karl Schmitt. Aber auch neue Persönlichkeiten wie der TV-Journalist André Prohaska. Sie alle sind so unfassbar witzig, liebenswert und melancholisch, dass es schon fast wehtut. Regener zeichnet Persönlichkeiten, die auf den ersten Blick simpel und oberflächlich erscheinen. Indem wir mit ihnen die Räume durchstreifen, die ihr Leben ausmachen, kommen wir ihren Gefühlen und Gedanken unfassbar nah. Und gewinnen sie als neue Freunde hinzu. Damit einhergehend erklärt sich für mich als Literaturwissenschaftler auch, warum die Romane weit mehr als Unterhaltungsliteratur sind. Regener entwirft Psychogramme von Menschen, Räumen und Zeiten, die genaueste Studien einer Gesellschaft sind, die es nicht mehr gibt. Das Berlin-Kreuzberg der 80er Jahre ist hier aufgehoben lebendig wie nirgends sonst.
We can be Heroes
Dazu gehört auch, im Vorbeigehen mit der großen Geschichte und meisterhaften Kunstprogrammen konfrontiert zu werden. Die Protagonist*innen erobern sich Räume, in denen sie sich selbst voll ausleben können. Dies tun sie als Hausbesetzer und Kneipiers; legitimieren sich und ihre Räume über die Kunst, ihren Intellekt und nicht zuletzt durch Gewalt. So entstehen im Roman immer wieder Realitätseffekte, welche die reale Geschichte der Hausbesetzungen in Berlin aufgreifen. Für uns Rezipienten wird etwas ersichtlich, dass oft für unmöglich gehalten wird: ganz normale Menschen können den Lauf der Geschichte ändern. Dabei muss man aber nicht ein asketische Dasein fristen. Feiert und trinkt ruhig ordentlich. Aber immer schön an die Elektrolyte denken…
Kleine Sätze vom großen Glück
Mit diesem wunderbaren Buch verbindet mich viel mehr, als nur die Arbeit oder ein paar angenehme Stunden. Beim Lesen kommen immer wieder die wunderbaren Erinnerungen an meine (wenn auch kurze) Berliner Zeit hoch. Es steht insgesamt dreimal in meinem Bücherregal, weil ich es nicht bloß selbst gekauft sondern gleich zweimal geschenkt bekommen habe. Diese Geschenke bedeuten viel mehr als einen materiellen Gewinn. Hinter ihnen stehen die wahren Geschenke des Lebens.
Sven Regener: Wiener Straße. Erschienen 2017 bei Galiani in Berlin. 304 Seiten. 12 €.*
*für diese Rezension bekomme ich kein Geld oder andere Entschädigung.