Am kommenden Samstag jährt sich die Wiedervereinigung Deutschlands zum 30. Mal. Ist in diesen drei Jahrzehnten wirklich zusammengewachsen, was zusammen gehört? So viele Fragen mehr drängen sich auf, wenn man an dieses historische Ereignis denkt. Kommt mit auf einen kurzen Streifzug durch die Zeiträume des vereinten Deutschland.
Aus einem Land, das es nicht mehr gibt
Eigene Erinnerungen an das geteilte Deutschland habe ich als 1992 Geborener natürlich nicht. Somit kenne ich auch die DDR nur aus Erzählungen, Büchern und den Medien. In meiner Kindheit war dieses verschwundene Land immer dann präsent, wenn Besuch aus Thüringen kam. Die Schwester meines Großvaters und ihr Mann kamen aus der Nähe von Jena, wo sie einen großen Bauernhof besaßen. Ich mochte die beiden wirklich gerne und erinnere mich dementsprechend sogar an Korrekturen der Tante gerne. Als die ISS ins Weltall geschickt wurde, erzählte ich begeistert von der Raummission der Astronauten. Prompt folgte der Hinweis, dass ich richtigerweise von Kosmonauten zu sprechen hätte. Schließlich war Sigmund Jähn der erste Deutsche im Kosmos, was der überlegenen sowjetischen Technik zu verdanken war (was wiederrum eine Errungenschaft des Volkes der DDR und seiner Freunde in der SU war). Als ich während des Studiums die Kneipe „Juri Gagarin“ am Wasserturm in Prenzlauer Berg zur Stammkneipe auserkor, hatte dies sicherlich neben dem guten Hausbier auch mit meiner Affinität zu den Kosmonauten zu tun.
Die DDR sah ich als Kind so immer als ein Land, das es nicht mehr gab obwohl es viel erreicht hatte. Sogar der Einzug in das WM-Finale 2002 wäre ohne die hervorragende Ausbildung von Michael Ballack in der Kinder- und Jugendsportschule Karl-Marx-Stadt kaum möglich gewesen. Von meinen Eltern und anderen Erwachsenen wurde mir aber immer auch vermittelt, dass viele Menschen in der DDR unter dem Staat gelitten hatten. Dass z.B. Sportler auch gezwungen wurden, Doping anzuwenden, um Medaillen für das Regime zu gewinnen. Und was ich überhaupt nicht verstehen konnte war, warum ein Staat seine Bürger*innen hinter einer Mauer einsperrt.
Die Mauer in den Köpfen
Je älter ich wurde, desto mehr interessierte mich dieses untergegangene Land. Über meine Liebe zur Literatur fand ich zu Autor*innen wie Lutz Seiler, Christa Wolf und Monika Maron. Diese Bücher begeistern mich so sehr, dass ich mich Großteile des Studiums mit ihnen beschäftigt habe. Jetzt arbeite ich an einer Dissertation zu ihnen. Dabei wird mir immer wieder bewusst, dass es die vielzitierte Mauer in den Köpfen immer noch gibt. Und ich stelle sie auch bei mir selbst fest. Es gibt Ressentiments, die in den meisten von uns fest verankert zu sein scheinen. Der Schriftsteller Ingo Schulze wurde in dieser Woche mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik ausgezeichnet. In seinem Werk wird er nicht müde, die Grenzen zwischen Ost und West zu vermessen und zu überschreiten.
„Die angebliche Alternativlosigkeit zum Kapitalismus lähmt noch heute unser Denken, Fühlen und Handeln. […] Statt einer Vereinigung, die womöglich auch den Westen auf den Prüfstand gestellt hätte, gab es nur einen Beitritt“
, verortet Schulze den Stand der Wiedervereinigung im Deutschlandfunk messerscharf.
Was bleibt
In diesem Gedanken ist viel Wahrheit. Beitritt statt Vereinigung. Ist das in 30 Jahren aufzuholen? Ich denke, dass es auf uns alle ankommt. Hinterfragen wir uns doch mal selbst. Wo sind unsere Vorurteile und wie gut kennen wir uns eigentlich. „Der Osten“ und „Der Westen“ sind Denkgebäude, die es uns bequem machen, an unseren Klischees festzuhalten. Gleichberechtigung ist das Stichwort. Als Literaturwissenschaftler muss ich von hieraus natürlich wieder einen Bogen zu den Büchern schlagen. Autor*innen aus Ost und West thematisieren in der Literatur, die sich mit der Wende befasst, immer wieder gleiche Gegenstände. Freiheit, Demokratie, Alltag, Umbruch und Aufbruch. Die Held*innen unserer Romane sind Grenzgänger*innen, die sich in einem gemeinsamen Erfahrungsraum bewegen. Warum teilen wir Leser*innen diesen gemeinsamen Raum an Erfahrung immer noch in Himmelsrichtungen auf, die es uns ermöglichen, uns als besser oder schlechter, Gewinner oder Verlierer, zu stilisieren? Was hindert uns daran, uns gleichberechtigt von den eigenen Erfahrungen im gemeinsamen Raum zu erzählen? Was uns bleibt, ist uns zu trauen.