Kurz Luftholen. Einige Tritte auslassen. Auf dem kurzen Flachstück rollen und einen Schluck aus dem Bidon nehmen. Vorne, an der Spitze des Pelotons, überwacht das Gelbe Trikot das Feld. Die Hitze des Tages ist in den Bergen kaum zu spüren. Weiter hinten belauern sich die Verfolger. Alle Kapitäne beschützt von ihren Mannschaften. Es gibt nur eine Chance, das Gelbe Trikot in Gefahr zu bringen. Volle Attacke. Wenn es richtig steil wird richtig rausknallen. Es ist der 16. Juli 2000. Die 14. Etappe der Tour de France führt von Briançon nach Courchevel. Am Ende wird sie Marco Pantani gewinnen. Und mein achtjähriges Ich mit ihm zusammen die Hände über der Ziellinie in die Luft werfen.
Wozu dieser Ausflug in eine Geschichte, deren später bekanntgewordenen Schattenseite im Prolog unerwähnt blieb? Eben dieses Bild, wie das Peloton durch die Alpen fährt hängt an einer Wand meines Arbeitszimmers und entzieht sich seit ein paar Tagen nicht mehr meinem Blick. Bei genauem Hinsehen erkennt man nicht nur den in Gelb fahrenden Lance Armstrong. Hinter ihm im Feld befinden sich Marco Pantani und Jan Ullrich. Von ihren Helfern umringt und auf den Großangriff auf Armstrong wartend. Am Wochenende wurde eben jener 50 Jahre alt. Und lud Geschäftspartner und ehemalige Weggefährten zum gemeinsamen Radfahren nach Mallorca ein. Unter ihnen auch Ullrich, der vor drei Jahren durch Drogenexzesse ins Rampenlicht zurückkehrte und seitdem verschwunden war. Der frühere Rivale hatte den Deutschen aus dunklen Zeiten geholfen. Ullrich berichtet, auf dem gleichen Weg wie Marco Pantani gewesen zu sein: in den (Drogen-)Tod. Armstrong gibt an, dass sie alle schlechte Zeiten erlebt hätten. Und nun hier seien. Alles was zählt.
Was mich hieran umtreibt und den Blick nicht vom Bild an der Wand lässt, ist die Ambivalenz, die sich in meinen Gedanken und Gefühlen breit macht, wenn ich Lance und Jan dort sehe und höre. Dass ich heute begeisterter Rennradfahrer bin habe ich Marco Pantani, Lance Armstrong und Jan Ullrich zu verdanken. Sie begeisterten mich als Kind, ich wollte ihnen nacheifern. Als ich das erste Mal auf einem Rennrad saß – ein Koloss aus Stahl mit Rahmenschaltung – war es um mich geschehen. Dieses Gefühl von Freiheit, Hingabe, Leidensbereitschaft und der Allegorie auf das Leben, die all das bildet. Die großen Kämpfe dieser drei habe ich jedes Jahr aufs Neue mitfiebernd am Fernseher verfolgt. Und bin mir heute bewusst, damit Teil ihrer Geschichte in all ihren Facetten zu sein. Ich wollte es sehen, wie sie in Fabelzeiten die Gipfel Frankreichs stürmten, unermüdlich in jedem Anstieg miteinander kämpfend. Wenn die Berge die Entscheidung nicht brachten, der Kampf gegen die Uhr auf der Zeitmaschine. Und ich wollte es noch Jahre später nicht zugeben, dass ich den größten Betrügern der Sportgeschichte zugejubelt und ihnen meine Bewunderung geschenkt habe. Ich war acht. Und denke immer noch gerne an diesen Sommer zurück. In dem Lance das Maillot Jaune wieder nach Paris trug, Jan aufs Podium fuhr und Marco nicht ins Ziel kam, aber Heldentaten in den Bergen vollbrachte.
Wenn ich heute die Bilder von damals sehe und dann höre, was deren Protagonisten 21 Jahre später sagen, weiß ich aber nicht mehr, ob ich ihnen alles glauben kann. Ob ich ihnen überhaupt noch zuhören will. Natürlich ist es schön zu sehen, dass Ullrich wieder gesund ist. Aber Armstrongs Selbstinszenierung reißt mich hin und her, selbst wenn sie ihn authentisch zeigt, als der, der er ist. Zu Ullrich ist er hilfsbereit, freundschaftlich und großherzig. Scheint selbst geläutert zu sein. Und doch kann ich ihm nur mit halbem Herzen glauben. Im nächsten Moment hat er kein Problem, Floyd Landis einen Haufen Scheiße zu nennen und sich darüber kaputt zu lachen.
Diese Bild hängt an der Wand und lässt mich nicht nur in Erinnerungen schwelgen. Es motiviert mich jeden Tag, Zeile um Zeile weiter zu kommen. In meiner Tour durch die Dissertation. Die Metapher vom Berg und die Allegorie des Radfahrens. Für die heutige Etappe ist die Flamme Rouge erreicht. Noch eine Zeile.