Seit ich als Schüler einen Sommer mit Tennessee Williams, Ernest Hemingway und Jack London auf unserer Terrasse verbracht habe, liebe ich die us-amerikanische Literatur. Als germanistischer Literaturwissenschaftler komme ich dann aber doch selten dazu, zwischen New York und Los Angeles unterwegs zu sein. In diesem Sommer aber hatte ich das Glück endlich einer Stimme zu folgen, deren Rufen mich schon lange lockte: Jonathan Franzen. Den monumentalen Auftakt zu einer Trilogie, die nicht weniger als „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“ sein soll, habe ich in den letzten Wochen mit „Crossroads“ gelesen.
An den Scheidewegen
Crossroads heißt nicht nur die christliche Jugendgruppe, der beinahe alle Mitglieder der Pfarrersfamilie Hildebrandt aus New Prospect nahe Chicago auf die ein oder andere Weise anheimfallen, sondern steht auch für die Scheidewege, an denen sie alle stehen. Der Roman erzählt auf knapp 900 Seiten eben diese Scheidewege der Familie und wie sie diese von 1971 bis 1974 durchleben. Franzen bespiegelt die sich in dieser Zeit für alle Familienangehörigen sowohl einzeln als auch kollektiv vollziehenden Tragödien. Und das ist sprichwörtlich zu nehmen. Wenn man denkt, noch weiter ins Unheil könne sich ein Mensch nicht hineinreiten, setzen die Hildebrandts immer noch etwas obendrauf. Als freikirchliche Christen glauben und hoffen sie aber stets, in und durch Gott Rettung zu finden. Als Leser ist diese teils grotesk anmutende Dramatik für mich stets reizvoll geblieben, weil jedes Kapitel das Erleben einer einzelnen Person beschreibt. Tragödien wie die Drogensucht des 16-jährigen Perry, die sich immer weiter zerrüttende Ehe von Marion und Pfarrer Russ oder Clements Meldung zum Militärdienst in Vietnam werden so immer wieder aus neuen Perspektiven beleuchtet und zuvor verborgene Elemente ans Licht geholt. Wahrheit ist ein Kernthema dieses Epos, dass insbesondere durch skizzierte Anlage hervorhebt, dass es eben die eine Wahrheit nicht gibt. Und damit auch nicht den einen wahren Glauben, der die Menschen zur Erlösung führe.
Bedrohliches Mosaik
So entsteht ein Mosaik der Düsternis, das mit jedem Kapitel-Steinchen düsterer wird. Russ, Marion, Becky, Perry und Clem erleben jede*r für sich einen Alptraum, der sie persönlich verheert und als Familie scheidet. Lediglich Judson ist zu jung und um im biblischen Duktus der Pfarrersfamilie zu bleiben „unbefleckt“, um niederzugehen. Diese Bedrohlichkeit inszeniert Franzen eindringlich. Als Leser fühlte ich mich selbst geprüft. Der Roman fordert heraus, das eigene Fühlen, Handeln, Denken und bis hierhin gelebte Leben zu hinterfragen in Bezug darauf, ob es das ist, was wir für uns als wahr, erfüllend und wünschenswert erachten. Das ist die große Stärke dieses Romans. Dafür muss man aber auch teils sehr langatmige Passagen überwinden. Wirklich fasziniert haben mich neben den intrinsischen Konflikten der Protagonist*innen die Beschreibungen von Landschaften und der vor der erzählten Zeit liegenden Vergangenheit von Russ und Marion. Arizona ist für Russ die unmittelbare Erfahrung seines Glaubens in einer schroffen Natur. Franzen hat die Gabe, dies in seinen Landschaftsbeschreibungen nachspürbar werden zu lassen und gleichzeitig eine kritische Distanz zur Religiosität der Figur zu behalten: „Die Landschaft war von grandioser Verlassenheit, mit tiefen Spurrillen, die vom Hauptweg abzweigten und auf Geheimnisse zuliefen, eine Ahnung von Leben […]“ (S. 602).
Zerrissenheit auf allen Ebenen
Von der Trilogie insgesamt wird erwartet, dass sie ein Panorama der us-amerikanischen Gesellschaft über mehrere Dekaden von den 70ern ausgehend beschreibe. Ob dies mit „Crossroads“ beginnt, kann ich nur unzureichend beurteilen. Die Zerrissenheit der Gesellschaft wird rund um Vietnam, Watergate, Alltagsrassismus und Glaubensfragen auf vielen Ebenen vorgeführt. Wirklich unter die Haut geht aber die Zerrissenheit der Romanfiguren. Die Erlösung, nach der sie sich sehnen, scheint möglich zu sein. Vielleicht ist das das „amerikanische“ an diesem Buch. In allem Scheitern liegt auch der Neuanfang. Und das Versprechen, mit harter Arbeit und Aufrichtigkeit sich selbst und anderen gegenüber das Leben leben zu können, das man sich erträumt hat. „Crossroads“ beschreibt sprach- und bildgewaltig, wie der Anfang hierzu gemacht werden kann.
Jonathan Franzen: Crossroads. Als Taschenbuch erschienen bei Rowohlt in Hamburg 2022. 832 Seiten. 17 €.
Unbezahlte Werbung, den Roman habe ich selbst erworben.
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