Zum Inhalt springen

Mein gefiederter Freund

An diesem Abend schlich ich mich noch einmal aus dem Bett und ins Wohnzimmer. Die Aufregung war groß. Das Christkind hatte ich schon verpasst. Jetzt den Osterhasen nicht auch noch. Leise musste ich sein, sollte doch niemand aufwachen. Durch die Glastür war nichts zu erspähen. Also ganz langsam die Klinke runterdrücken und durch den Spalt lugen. Nichts zu sehen. Im Schleichgang am Sofa vorbei. Durch das Esszimmer wieder in den Flur. Jetzt erst recht leise. Nicht, dass mich die Eltern noch erwischen. Auch im Flur nichts. Als ich wieder unter die Bettdecke schlüpfe sehe ich ihn. Wie er vor dem Fenster in die Nacht verschwindet. 

Als es wieder Tag geworden ist, bin ich noch aufgekratzter, als am Abend. Meine nächtliche Route wiederhole ich mit den wachsamen Augen des nach Abenteuern und Neuland suchenden Entdeckers. Und hinter jeder Ecke etwas Süßes. Nach dem ich nur ausgreifen muss. Und dann stehst du da. „IGIIIIIII“, rufe ich in Liebe auf den ersten Blick. Du großer, stattlicher, gutmütiger, lustiger, herzlicher Freund. „Kickericki“, rufst du zurück und drückst mich an deine weiche Brust. Woher ich deinen Namen wusste? Nun, es war einfach klar, dass du Igi bist. Vielleicht hast du es mir auch ins Ohr geflüstert, damit ich dich allen vorstellen konnte.

Von da an gab es uns nur noch im Doppelpack. Du grandioser Fußballer, Pirat, Ritter, Cowboy, Indianer, Komiker, Geschichtenerzähler. Überall warst du dabei. In der Bauecke und dem Stadion in unserem Garten. Auf dem Gepäckträger und im Sandkasten. Nur im Schwimmbad warst du wasserscheu. Und es tut mir leid, dass ich dich im Supermarkt habe sitzen lassen. Du wolltest Eis holen und ich Panini-Bilder organisieren. Auf dem Heimweg dachte ich, du hättest dich aufs Dach gesetzt, weil du den Fahrtwind immer so mochtest und das Eis nicht schmelzen sollte. Zu Hause angekommen, ohne dich. Das Herz ist mir fast stehengeblieben vor Schreck. Wo ist mein Igi? Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Der Nachbar wusste nicht wo meine „Ente“ sei. „Er ist ein Gockelhahn!!!!!!!“. Wo ist er nur????? Zurück ins Auto und mit Bleifuß zurück zum Supermarkt. Rufe und schreie ich nach dir. Wo bist du nur. Hastig die Gänge abrennend. Finde ich dich endlich. Wohlauf. Mit einer Cola/Kohler in der Kralle. Selbst in ausweglosen Situationen ein cooler Typ.

Erinnerst du dich an all die großen Spiele und Abende? Wir zwei zusammen auf dem Sofa. Dein großes Glück von Natur aus ein gelbes Trikot zu tragen, während meines bis zum Ausbleichen gewaschen werden musste. Diese furchtbare Nervosität, die nur du mir nehmen konntest. Die sich erst richtig löste, wenn der Ball im Netz war und der Schiedsrichter abpfiff. Wenn du im hohen Bogen durch die Luft geflattert bist und in meinen Armen landetest. Den Pokal zusammen in den Himmel gehoben. An den Abenden, an denen die anderen gewonnen hatten, warst es nur du, der meine Tränen trösten konnte. Als der Kokser mit rot vom Platz ging, hast du mich gehalten. Und als ich über ostwestfälische Äcker pflügte und den Ball aus unserem Netz holte, sah ich dich. Wie du an der Seitenlinie lang marschiert bist und mir zugerufen hast. Walk on with Hope in your heart. 

Und ich ging nie allein. Weil du immer da warst. Wie oft hast du mich in deine wärmenden Flügel genommen im Lauf der Jahre. Der letzten 23 Jahre. Die Wege der meisten Kinder und ihrer Freunde trennen sich spätestens nach zehn Jahren. Wir sind bei uns geblieben. Wie mit so vielen Freundschaften ist es aber auch uns ergangen. Man sieht sich nicht mehr so oft. Man hört nicht mehr so viel voneinander. Die Zeit ist nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Auch nicht an dir, Igi. Nicht an mir. Aber manche Dinge ändern sich zum Glück nie. Wie ich erst kürzlich wieder erfahren durfte. Als du mich in deine Flügel nahmst. 

   Wenn ich diese paar Zeilen lese, kommen sie mir so furchtbar unvollständig vor. Ganze Erzählungen und Romane möchte ich von dieser Freundschaft schreiben. Unwissend, ob sie zum Kern vordringen würden oder könnten. Erzähl mir deine Geschichte du Zuhörer, Tröster, Aufmunterer und niemals Weggehender. Du, mein bester. Du, mein ältester. Du, mein gefiederter Freund.