Manchmal findet man sich auf einem Umweg wieder. Einer meiner Umwege begann damit, dass ich ein rotes Trikot anzog. Mit den blauweißen Rauten auf der Brust, die einen Teil meiner Herkunft und Heimat repräsentieren. Natürlich führte es zu Irritationen, kannte man mich doch nur in schwarz und gelb. Auch dieses Trikot wurde mir geschenkt. Und es war verbunden mit einem Geschenk, das mich schlaflos machte. Ein kleines Stück Papier voll großer Verheißung. Eine Eintrittskarte in den Mythos des Europapokals. Bayern München gegen Real Madrid. Die Bayern gegen die Königlichen. Das Weiße Ballett. Die Galaktischen. Mehmet Scholl und Zinedine Zidane.
Zwar waren Osterferien, also hatte ich sowieso frei. Aber an diesem Tag erlebte ich zum ersten Mal am eigenen Leib, was der Europapokal mit uns macht. Du nimmst einen halben Tag Urlaub, um auf der Suche nach dem Henkelpott dabei zu sein. Es ist nur ein Spiel, aber du setzt die Spielregeln des Alltags aus, um es mitzuspielen. Also steigen wir um kurz nach drei mit 40 anderen Aussteigern in einen Bus. In den zuvor kistenweise Bier und ein bisschen Cola geladen wurden und machen uns auf gen Süden. Unsere Marschpakete würden für eine Invasion Invasion hinter feindlichen Linien reichen. Die Weißwurst lasse ich mir als erstes schmecken. Und eine Spezi dazu. Als wir die Autobahn erreicht haben, haben die Jungs hinter uns die Abtastphase zu Beginn des Spiels überwunden. Im Versmaß einer Ode klopfen sie kleine Feiglinge gegen den Klapptisch an der Rückseite meiner Rückenlehne. Ja, sie haben ein Idol: Harald Juhnke.
Unterdessen widmen wir uns der Fachsimpelei. Und die Männer stimmen meinem Patenonkel zu, dass sie den Kicker nicht mehr zu lesen brauchen „Der Bub weiß ja alles“. Und doch ist die Hoffnung nicht allzu groß. Selbst wenn im Tor der Titan Kahn steht, in der Abwehr der unüberwindbare Baske Lizarazu und im Mittelfeld der Tiger Effenberg alles abräumt. Was bleibt auszurichten gegen den großen Zidane, den feurigen Raul und wie soll der eiserne Fernando überwunden werden. Zidane, werde ich heiß schwärmend. Mein Zidane. Und doch bin ich beim Tippspiel der einzig Mutige: 2:1 Bayern.
Die Hallertau fliegt mit ihren Hopfenfeldern an uns vorbei und der Puls wird schneller. Wenn es keinen Stau mehr gibt, sind wir bald da. Und tatsächlich betreten wir bald bei königlichem Sonnenschein den Boden der Hauptstadt des Freistaates. Fahnen werden geschultert, nachdem die Notdurft an Bäumen verrichtet wurde. Trikots und Schals übergestreift geht es auf den Weg zu diesem in den Boden gebauten weiten Rund. Volksfest im Olympiapark. Ich kann es kaum glauben, dass tatsächlich Schlachtenbummler aus Madrid dienstags um kurz vor sechs bei Weißbier „Hala Madrid“ rufen. Und dann geschieht das Unfassbare. Der nie für möglich gehaltene Traum wird wahr. Neben uns fährt im Schritttempo ein silberner Bus mit braungetönten Scheiben. Silhouetten sind zu erkennen. Und da war mein Augenblick mit Zizou. Unfehlbar erkenne ich seinen Haarkranz hinter dieser Scheibe. Und er blickt aus dem Fenster. Direkt auf mich, wie ich mit meinem Bayernschal vor Ekstase auf und ab hüpfe.
Von dieser Euphorie kann ich mich nicht mehr erholen. Selbst ein großer Schluck Bier kann daran nichts ändern (dass es bei internationalen Spielen nur alkoholfreies gibt, realisierte ich erst mehr als zehn Jahre später leidvoll). Dieses riesige Stadion zieht uns in sich ein. Meine Hoffnung: aus der elften Reihe werde ich Zidane nochmals und diesmal ganz nah und genau sehen können. Dachte ich so lange, bis ich mit dem Fernglas des Paten Oli Kahn beim Warmmachen zusah. Der Kessel beginnt zu brodeln, als der Titan vor seine Kurve kommt. Wie ein Feldherr tritt er vor seine Legion. Sie grüßen ihn mit fanatischen Schlachtgesängen. Er reckt die Faust, auf deren Zeichen hin sie alles für Ruhm und Ehre geben werden. Das Fernglas wandert weiter auf die Ehrentribüne zu. Und erblickt den Kaiser. In meinem Kopf taucht plötzlich Wolfgang „Sali“ Feiersinger auf. Hast du auch da vor fünf Jahren gesessen, als du eigentlich in einem stillen Winkel hast sein wollen? Sali, des tut ma schia und wia.
Und dann ward Stille. Ganz in weiß kommen sie auf den Platz. Bewegen sich mit purer Eleganz, den Ball eng am Fuß. Und wieder suche ich nur nach ihm. Zizou, wo bist du? Der Genius braucht Freiheit in Raum und Zeit. So schleicht er sich fast unmerklich auf den Platz, als sich das Blitzlicht an seinen Kameraden entladen hat. Und es wird eremitische Einkehr unter 60.000 Menschen. Die Vollkommenheit einer jeden Bewegung, an der nichts zu viel ist. Weil er darum weiß, dass seine Schlichtheit überzeitliche Gültigkeit hat. Ich kann die Augen nicht von diesem Mann lassen. Registriere alles an ihm. Die stille Mimik. Ganz im Fokus. Alle Liebe gilt dem Ball. Den er sanft streichelt. Wenn er einen Flugball spielt wirkt es, als reiche dieser Ball bis in den Kosmos und lande punktgenau auf einem Stern. Die Augen kann ich erst von ihm lassen, als ich es muss. Warum drängeln sich diese Deppen kurz vor Anpfiff an mir vorbei, während ich den Meister beobachte?!
Kurz darauf betreten die Mannschaft zum Spiel bereit wieder den Platz. Der Titan in vorderster Front der Bayern. Zizou an der Spitze seines Orchesters. Sie wenden uns den Rücken zu, als sie vor der Ehrentribüne mit dem Kaiser antreten. Die Hymne erklingt und es ist so wahr: „Ils sont les meilleurs / Sie sind die Besten / These are the champions“. Diese Spieler gehören zu den besten ihrer Generation. In diesem Moment ist mir klar, sollte ich jemals Kinder haben, werde ich ihnen ehrfurchtsvoll erzählen, diese Männer gesehen zu haben. Und den für mich Größten aller Zeiten. Die Platzwahl verliert der Titan. Dann schrillt die Pfeife auf und der tosende Sturm beginnt. Nur wenn Zidane den Ball hat, kehrt Ruhe ein. Er ist wie das Meer, wie Laokoon, an der Oberfläche peitscht die Gischt, tief im Inneren ist standhaltende Ruhe.
Hier wird sich nichts geschenkt. Auch nicht den Madrilenen in der Reihe hinter uns. Claude Makelele ist der Knochenbrecher des Ensembles. Und meint Owen Hargreaves umflexen zu müssen. Haltets die Goschen, sonst gehts euch, wie dem tapferen Owen, der sich am Boden krümmt. Es passiert das unvermeidliche: Geremi stellt auf 0:1. Egal noch sind 80 Minuten Zeit. So sehr die Bayern kämpfen, meine Augen sind nur bei dem Halbgott in weiß. Zidane ist der Ursprung des Spiels. In den Vordergrund spielen sich die anderen, aber er ist das Herz und die Seele. Auf ihn geht all diese Herrlichkeit zurück. Er nimmt sich zurück und inszeniert aus zeitloser Ruhe heraus. Sein Gespür für das Spiel. Alles gilt dem Gesamtkunstwerk. Er geht bis an den eigenen 16er zurück, um das Spiel aufzuziehen. Geht lange Wege in unnachahmlichen Schritten. Raumgreifend und von Einkehr geprägt. Immer zielgerichtet. Kein Schnörkel zu viel. Im Zweikampf scheint es, die Gegner treten ihm zu nahe. Dringen ein, in seine Kontemplation. Er wehrt sich durch Entzug. Umringt von Jeremies und Effenberg führt er sie endlich vor: seine Pirouette. Dreht sich einfach an ihnen vorbei, den geliebten Ball emphatisch mit der Sohle mitziehend. Aus der Drehung in den Vollsprint. Den Kopf immer oben. Sieht er Raul aus dem Halbfeld auf Kahn zu rennen. Schickt den Ball grazil auf die Reise durch den Münchener Abendhimmel. Und sortiert sich sofort wieder in den Verbund ein. Position halten. System halten. Den Taktstock mit dem kleinen Zeh schwingend.
Denke ich an diese Szenen und sehe Zidane heute an der Seitenlinie stehen, kommen schwankende Gefühle auf. Kühle Eleganz verkauft sich heute nicht mehr so gut. Schillern muss ein großer 10er oder 7er. Zizou weiß, dass er seinen 7er nicht zu dirigieren braucht. Nimmt sich zurück. Lässt ihn sich auf dem Flügel entfalten und Tore schießen. In den Zeitungen steht, Zizou trainiere auf dem überholten Stand der Technik. Der Erfolg gibt ihm recht. Und ich muss einsehen, dass ich wohl einer der wenigen Nostalgiker bin, die von einem Künstler in schwarzen Schuhen träumen.
Die Masse wird unruhig. Jetzt muss aber endlich doch mal etwas passieren. Der Mann im Trenchcoat hat wie immer das richtige Gespür. Wechselt geschickt. Der Tiger beißt zu und stellt auf Ausgleich. Die Masse bebt. Aber dennoch ist ein Unentschieden besser, als eine Niederlage. Die Rechnung hat man aber ohne Hitzfeld gemacht. Nach dem ersten Tor immer nachlegen. Die Überrumpelung des Gegner ausnutzen und noch eins machen. Und es geschieht. Claudio Pizarro schraubt sich in die Lüfte und seine wehenden Locken überwinden Sanchez. Es ist die 88. Spielminute. Jetzt wird der Vorsprung ins Ziel gebracht. Zizou ist immer noch ruhig, aber legt einen mörderischen Takt vor. Für Tragödie ist er im fünften Akt nicht zu haben. Und muss sich doch beugen. Hugh Dallas pfeift ab. Ottmar Hitzfeld hat meinen Tipp realisiert. Der Stern des Südens leuchtet hell in dieser lauen Nacht. Es ist der 2. April 2002.
Dies war einer meiner Umwege. Der mir etwas geheimnisvolles zeigte. Und mir zum ersten Mal offenbarte, dass man auf Umwegen häufig das wiederentdeckt, das man an der Kreuzung einst glaubte hinter sich zu lassen.