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Zeitwandlungen

Es nimmt doch sehr wunder, wie sehr sich unsere Wahrnehmung der Zeit unterscheiden kann. Heute vor einem Jahr – nervös in einem kleinen Sessel umherrutschend – war sie ein nunc stans – ein stehendes Jetzt. Ich hörte die Sätze, vor denen ich Angst hatte. Am meisten Angst, dass sie nicht fallen würden und ich als eingebildeter Kranker dastehen würde. Und doch genauso viel Angst davor, genau diese Sätze zu hören und nicht etwa etwas milderes wie „das gibt sich schon wieder mit etwas Geduld“. Es würde sich eben nicht einfach so wieder geben. Die Sätze, die ich hörte, erklärten mir, welche Form von Depression ich hatte und wie diese behandelt werden müsse. In diesem Augenblick schien die Zeit zu stehen. Sechs Monate, ein Jahr. Vielleicht auch länger. Interessierte mich nicht. So sehr die Gewissheit schmerzte, so sehr befreite sie. Schon in diesem Augenblick war mir klar, dass ich mir nun andere Gesetzmäßigkeiten schenken würde: Zeit spielt keine Rolle.

Die Tage vergingen und bald gab es nichts mehr zu tun. Keine Arzttermine. Keine Gänge zur Apotheke. Keine Suche nach Therapieplätzen. Nur noch Warten auf einen solchen. Und auf die Befreiung der Gewissheit folgte die Versehrtheit des Eingestehens. Eingestehen, wie ich mich an diesen Punkt in meinem Leben gebracht hatte. Ich ganz allein, der ich da jetzt allein durchmusste obwohl so viele für mich da waren. Von Aufgeben war keinen Moment die Rede und auch kein Gedanke. Dass sich jemals etwas wieder ändern würde, kam mir aber auch unwahrscheinlich vor. Diese Krankheit raubt dir nach und nach den letzten Funken Autonomie in deinem Leben. Und du stehst daneben und kannst nicht mehr tun als leise zu wispern und dich wegzuducken, starr vor tauben Gedanken. Spazieren ging ich viel. Auch im Dunkeln. Einmal war es so dunkel, dass ich wirklich nichts mehr sah. Aber ich kannte den Weg und dachte mir nur, dass es ohnehin nicht dunkler werden könne, als es eh schon ist. 

Und dann kam der Tag, an dem das Telefon klingelte. Die Koffer hatte ich schon längst fertig gepackt. Abmarsch bereit, wenn die Trommel zum Streite schlägt. Sie schlug und nach der letzten Umarmung auf dem Zimmer, das ich nun mindestens sechs Wochen bewohnen würde, ging niemand mehr an meiner Seite. Es ist ein Paradoxon, dass nur du allein diesen Kampf austragen kannst obwohl dich so viele unterstützen. Wenn du nicht bereit bist aus dir selbst heraus durch deine Abgründe zu gehen wird dir niemand helfen – weil es dann niemand kann. Ich bin froh gelernt zu haben, mir helfen zu lassen. Denn mir wurde die Ehre zuteil, Hilfe von einigen der besten Menschen geschenkt zu bekommen, die ich in meinem Leben kennenlernen durfte. Und zu erkennen, wie sehr mich die Menschen lieben, die ich schon mein Leben lang kenne.

Selbstentfremdung war das, was ich überhaupt noch spürte. Da war eigentlich kein Gefühl mehr. Alles abgestumpft. Wie umhüllt von Wolken. Der Körper als Erfüllungsgehilfe des Geistes. Schlaflos. Ruhelos. Konzentrationsgestört. Ausgelaugt. Es nimmt doch sehr wunder, wie sich dieser geschundene Körper erholen kann. Mich auf ihn einzulassen fiel mir alles andere als leicht. Wenn mich auf ihn konzentrierte, hörte ich nur noch das stille Tosen der verhallenden Schlachten, die meine Seele in den Jahren auf dem Weg in dieses Haus am Ende der Straße geschlagen hat. Und erschrak vor mir selbst. Aber die Meteorologen haben recht: es ist Sonne im Auge des Sturms. In der Dunkelheit erst konnte ich diese Sonne wieder sehen.

Und doch fällt es so unfassbar schwer, auf diesen Feuerfunken zuzugehen. Wir waren nicht allein. Wir machten uns auf in dieses weite Land der tiefen Gräben, das Heilung verspricht und doch mit Götterdämmerung droht. Wir Traurige Armee. Unsere Fahne stand auf dem Kopf. Rettung konnten wir uns nur selbst sein. Und durchschritten dies finstere Tal auf breiter Front, schrecklichen Heerscharen Aug in Aug begegnend. Schüttet aus all euren Grimm und Schrecken über uns, wir bleiben standhaft. Lasst Verzweiflung und Pein auf uns hernieder prasseln wie den Sturm der Pfeile aus dem Heer des Xerxes. Wir werden unser Haupt nicht beugen, aber den Schild über unseren Nachbarn erheben und festen Mutes die Phalanx des Dunklen durchbrechen.

Mit heroischen Worten dieser Art könnte man es beschreiben – muss man aber nicht. Und jeder ist ein Held, der sich diesem Kampf stellt. Hören kann ich sie allerdings nicht mehr, die Geschichten der vom Totenbett Auferstandenen, die durch die Talkshows dieser Republik ziehen die frohe Botschaft ihrer Heilung als Teleologie für uns Sterbliche verkündend. Und doch – etwas bleibt immer zurück. Unsichtbar unter der Haut. Ein jeder der standgehalten hat und standhält trage es mit Stolz. Und verschweige es nicht im Angesicht einer Gesellschaft, die sich krank leistet und optimiert. Erzählt eure Geschichte. Zeigt eure Wunden. Dass Beuys nicht unbedingt recht hatte, musste ich leider mitansehen. Nicht jeder wird geheilt, der seine Wunde zeigt. Und doch lohnt es sich immer an das eigene Gesunden zu glauben. Darin wird man den vielbeschworenen und doch nicht abgegriffenen Feuerfunken Glut noch finden. Erzählt davon, wie ihr die Flamme zum Funken und den Funken zur Flamme machtet. Contre nous de la tyrannie /

L’étendard sanglant est levé. / […] Aux armes, citoyens, / Formez vos bataillons, / Marchons, marchons!

Und heute, ein Jahr später? Kann ich sagen: Ich bin gesund. Und ich bin glücklich.