Das Jahr neigt sich dem Ende zu – und was für ein Jahr. Aber über die Corona-Pandemie will ich zum Jahresausklang nicht sprechen. Im Dezember sporne ich mich jedes Jahr nochmals an, alles mögliche schaffen zu wollen. Die Adventszeit diesen Jahres habe ich u.a. damit verbracht, noch vier Bücher zu lesen und ein Abstract für einen Vortrag zu entwerfen. Gestern dann war er gekommen: der letzte Arbeitstag des Jahres. Diesen geschafft zu haben, zelebriere ich gerne richtig. So gab es gestern Abend ein gutes Glas Slyrs Single Malt. So richtig abschalten kann ich dann aber doch nicht. Geht euch das auch so, dass ihr euch nach Ruhe sehnt und sie dann nicht aushalten könnt? Falls ja, gibt es jetzt hier einen kleinen Exkurs zur korrekten Verrichtung des Feriendienstes von Thomas Mann.
Jugendfreunde
Beim Namen Thomas Mann denken die meisten vermutlich an alles nur nicht an Ferien. Mir geht es da anders. Ich verdanke dem Nobelpreisträger einen Freund, den ihr vielleicht kennt: Hans Castorp. Dieser ist der „jugendliche Held“ von Manns monumentalem Roman „Der Zauberberg“. Nach dem Abitur las ich diese gewaltigen 1000 Seiten und brauchte ein ganzes Jahr dafür. Hans besucht seinen Vetter Joachim in Davos, wo letzterer aufgrund eines Lungenleidens im Sanatorium weilt. Eigentlich will er nur drei Wochen bleiben – es werden sieben Jahre. „Bei denen da oben“, wie die illustre Gesellschaft kurz vor dem 1. Weltkrieg genannt wird, fühlt Hans sich sicher vor der beklemmenden Welt da unten im Flachland. Seine Lunge macht plötzlich selbst Geräusch, was untrügliches Zeichen für die Notwendigkeit der Kur ist. Mir ist diese Figur so ans Herz gewachsen, dass ich sie einen Freund nenne. Als ich im Studium ein Praktikum in Zürich absolvierte, wohnte ich in der Nachbargemeinde der Manns. Diese hatten in Kilchberg am Zürichsee ihr Exil und auch die letzte Ruhestätte gefunden. So pilgerte ich (Personenkult ist ja eine meiner Schwächen) auf den Gottesacker, den Meister zu besuchen. Hans raucht im Roman mit Vorliebe Zigarren der Marke Maria Mancini. Damals selbst noch passionierter Raucher, legte ich eine Parisienne-Zigarette ans Grab und ließ einen kleinen Zettel aus dem Notizbuch da. Vielen Dank für Hans Castorp, den Freund.
Die Zeit entwickelt uns nur
Warum erzähle ich diese rührselige Geschichte? Zum einen, weil mir dabei immer wieder klar wird, dass ich Literaturwissenschaft betreibe, weil ich für sie und ihre Stoffe brenne. Das muss ich mir in den beschwerlichen und entmutigenden Momenten auch immer mal wieder wachrufen. Zum anderen braucht der Zauberberg selbst viel Zeit, um Hans‘ Geschichte zu entwickeln. Nach fast 800 Seiten Erzählzeit kommt es zu dem wunderbaren Kapitel „Strandspaziergang“. Hans trauert um den nun verstorbenen Joachim und der Erzähler berichtet über seinen desolaten Zustand: „[…] du bist der Zeit und sie ist dir abhanden gekommen“ (S. 749). Was daran wunderbar ist, ist wie Mut aus der Wehmut geschöpft wird. Der Erzähler beschreibt eindringlich, wie wichtig ein zeitlich geordnetes Leben für die seelische Gesundheit ist. Aber auch wie dringend nötig wir es alle haben, dann und wann die Zeit einfach zu vergessen. Das nennt er „Ferienlizenzen“. Hans nimmt sich diese Lizenz und geht mitten in den Alpen am Strand spazieren.
Zeitvergessen
Als ich gestern den Laptop schloss, kam mir Hans Castorp in den Sinn. Eine Ferienlizenz muss ich jetzt in Anspruch nehmen. Mich nicht selber weitertreiben, sondern in ruhiger Zeitvergessenheit die Tage genießen. Das ist etwas, das ich auf die harte Tour gelernt habe. Sich um sich selbst kümmern heißt manchmal eben auch, sich selbst eine Ferienlizenz auszustellen und von allen Pflichten zu entbinden, ohne sich deswegen schlecht zu fühlen. In diesem Sinne wünsche ich euch allen einen Zauberberg, auf dem ihr ganz bei euch selbst sein und den süßen Geschmack der Pflichtlosigkeit genießen könnt.