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Neongelbe Jahre

In Ostwestfalen gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten, welche Farben deine DNA illuminieren. Es ist keine Frage der Entscheidung; am ehesten noch eine der Sozialisation. Meine Doppelhelix zieht sich schwarz und gelb durch jede Zelle. Eng umschlungen ein ewig Band. Wenn ich versuche mich an den Tag zu erinnern, an dem mir das klar wurde, kann ich ihn nicht finden. Aber auf den einen Punkt in dieser Masse an Zeit kommt es auch nicht an. Erinnern kann ich, dass in meinem Bewusstsein am Anfang nur schwarz und gelb standen. In den 90er Jahren war es nicht so einfach ein Trikot für den gerade dem Strampler Entwachsenen zu finden. Mein Onkel trieb es trotzdem auf, dieses gelbe T-Shirt mit den drei großen Buchstaben in der Mitte. Ausziehen hatte ich es nicht mehr wollen. Es wurde im Wechsel mit der Kapitänsuniform getragen.

Es gab nur diesen einen Verein, der meiner war. Dass es zum Spiel immer zwei braucht war mir vollkommen egal. Irgendwann konnte ich die blauen natürlich nicht mehr ausblenden. Wie gesagt, in Ostwestfalen gibt es nur zwei Möglichkeiten. Dann waren da aber plötzlich die Kinder in den roten Trikots. Von den Paninibildern behielt ich immer nur die der Jungs in Gelb. Wozu brauchte ich ein Album, wenn ich meine Lieblingsspieler immer auch in der Hosentasche bei mir tragen konnte. Der Ball rollte über den Rasen hinter dem Haus. Bäume wurden umkurvt und nachher landete er doch wieder beim Nachbarn. Wenn er nach höflichem Fragen aus der Hecke befreit wurde, ging es weiter. Der Ball fliegt zu Sammer. Er lässt ihn von der Brust tropfen. Legt ihn zur Seite. Kohler treibt ihn in Richtung Mittellinie, wo er zu Ricken passt. Pfeilschnell sprintet der nach vorne. Auf der Tribüne springen alle, die noch sitzen, auf. Flanke in den 16er. Chapuisat setzt sich durch und wuchtet die Pocke in die Maschen. Zum Jubel nehme ich meine Schwester in den Arm.

Draußen beginnt es ganz langsam zu dämmern und das Abendessen ist schon lange durch. Eigentlich müsste es jetzt ins Bett gehen, aber zähe Verhandlungen zahlen sich aus: Borussia spielt in England, ich sitze zumindest in der ersten Halbzeit auf dem Sofa. Bettfertig, aber mit Trikot. Igi, mein ältester und bester Freund direkt neben mir. Die Spieler kommen auf den Rasen und die Hymne erklingt. Die Kamera fährt an ihnen vorbei und ich bin froh, Ricken zu sehen. Looooos, Borussia!!!! Und wie sie loslegen. Nach diesem Abend wurden die Verhandlungen über einen Ohrring intensiviert. Ich wollte unbedingt so einen wie Ricken; nach diesem Traumtor konnte man mir den einfach nicht mehr abschlagen. 1:0 im Old Trafford für uns. Das müssen wir über die Zeit bringen. Und wehren uns gegen den Sturmlauf der Red Devils mit allem, was wir haben. Eric Cantona, dieser am Wahnsinn kratzende Exzentriker und Genie am Ball. 

Heute sage ich mit einer nostalgischen Träne im Auge häufiger, dass mir die Verrückten auf dem Platz fehlen. Cantona, Gascoigne, Basler. Ich vermisse euch. Eric sieht man jetzt manchmal in Filmen. Gazza ist komplett verschwunden. Als ich letztens las, dass er in einem Hotel im Vollsuff gepöbelt hat und dann ins Rehab ging, war ich nicht mehr schockiert. Marlboro Mario, bitte schlag nochmal mit einem Hut auf dem Kopf eine bessere Ecke als Özil. Im Reality-TV ertrage ich dich nicht mehr. Vielleicht war Johann Micoud der letzte dieser Art.

Der Großmeister der Exzentrik rennt unablässig unseren Strafraum an. Irrwitzige Übersteiger, Dribblings und Schüsse. Er will unbedingt. Da gibt es kein Halten mehr. Entfesselter Genius. Reuter, Feiersinger, Klos, einer ist immer da. Cantona dringt in den 16er. Lässt alle stehen. Unser Tor ist fast blank. King Eric legt sich den Ball zurecht. Muss ihn nur noch über die Linie schieben und kann auf den Zaun klettern, sich von seinem Volk lieben zu lassen. Doch der Kokser ist noch nicht geschlagen. Im Tor liegend bäumt er sich noch einmal auf. Der König schießt. Sechs silberne Schraubstellen stehen ihm im Weg. Der Kokser hat mit letzter Kraft den Fuß noch knapp über die Grasnarbe des englischen Rollrasens bekommen und wehrt King Erics Schuss ab. Nach Abpfiff gibt es im Theater der Träume stehende Ovationen. Igi und ich sind längst ins Reich der Träume abgetaucht. In der Sehnsucht nach dem Henkelpott.

Vor Juve hatte ich – im Gegensatz zu den Erwachsenen – keine Angst. Ich kannte sie ja gar nicht. Und wenn eine Mannschaft „Alte Dame“ genannt wird, kann von ihr ja nicht so viel Gefahr ausgehen. Es geht um diesen wunderschönen Silbernen Pokal. Und er zieht mich magisch an. Nach ein paar Minuten verstehe ich, warum die Großen vor Turin zittern. Namen sind mir egal, ich habe ja meine Helden in Schwarzgelb. Wozu also die an diesem Abend in blau und gelb Antretenden beim Namen nennen. Es war der Abend, an dem ich begann Zinedine Zidane und Alessandro Del Piero zu verehren. Wolfgang Feiersinger tut mir unglaublich leid. Von der Tribüne, von der ich fünf Jahre später Zidane selbst bewunderte, muss er zusehen. Der Mann im Trenchcoat weiß, was er tut. Matthias Sammer an der Seite vom Kokser beruhigt mich, als ich nervös auf und ab rutsche. Kalle „Air“ Riedle, du Vollstrecker. Der Legende nach hat er in der Nacht zuvor von diesen beiden Toren geträumt. Und uns wiegen sie in elektrisiert entspannter Freude, bis Del Piero vor Stefan Klos auftaucht. Edle Einfalt, stille Größe ist dieses Tor. Der Mann im Trenchcoat weiß, was zu tun ist. Juve sollte keine Morgenluft schnuppern, nicht die Chance bekommen es gegen das Bollwerk besser als König Eric zu machen. Spielt weiter Fußball. Werft euch voll rein und beschäftigt sie. Spielt Fußball. Lasst sie euer Spiel sehen, dann können sie ihres nicht aufziehen. Wenn wir vorne sind, stehen sie an der Torauslinie. Bis auf Peruzzi. Der stand immer zu weit vor seinem Tor.

Ottmar Hitzfeld bringt ihn endlich. Das ganze Spiel über hatte ich ihn vermisst. Die Anzeigetafel geht in den Münchener Abendhimmel und die Nummer 18 betritt das Feld. Heheyheyhehey BVB singt der Chor. Als die Kamera umgeschaltet hatte, sah man was passiert, wenn sich durch Bewegung in der Zeit Räume öffnen. Die rechte Seite war offener Raum, der den Weg zum Henkelpott aufmachte. Der Ball zischt 10/15 Meter über den Rasen und setzt noch einmal kurz auf. Mit dem Spann kommt Ricken in dieser Nanosekunde unter den Ball. Pustet die Backen auf. Macht einen großen Ausfallschritt in der Luft. Diese paar Sekunden. Kommen mir wie eine Ewigkeit vor. Als fliege der Ball in Zeitlupe auf das Tor zu. Der ist gut. Der ist gut. Alle springen auf und mit Lars über die Bande. Hin zu Ottmar. Wir liegen uns in den Armen. Hüpfen. Klatschen. Dass er wirklich aus 25 Metern den Ball in den Winkel gelupft hat, glauben wir nach der dritten Wiederholung immer noch nicht. Pfeif doch endlich ab. Bitte, pfeif einfach ab. Irgendwann tut er es dann endlich. Es ist der 28. Mai 1997. Wir haben es geschafft. Wir. Wir halten diesen Silbernen Traum an seinen Henkeln in die Höhe. Wir, der BVB.

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